Wer bewusst und engagiert Wahlberichterstattung verfolgt, muss zu Masochismus neigen – eine Tatsache, die uns auch der „Kampf um Wien“ 2010 medial vor Augen geführt hat. Sei es die sedierende Elefantenrunde des ORF, die Schaukampfinszenierung auf ATV oder das vergleichsweise fast (sic!) angenehme Format von Puls 4, dabei zu sein, kostete oft Nerven und führte vielfach zu dem, was man seit dem fulminanten Erfolg von „Assi-TV“ unter dem Begriff fremdschämen versteht.
Dabei machte ausgerechnet PULS4, eine Tochter der ProSiebenSat.1 Media EG, mit „Wahl 2010 – Der Kampf um Wien“ die beste Figur. Obwohl man sich auch hier konzeptuell auf die von der FPÖ inszenierte, aber real inexistente Schlacht um Wien einließ und die Diskussion einem Boxkampf nachempfunden in Runden einteilte, an deren Ende jeweils ein Sieger durch eine vierköpfige Journalisten-Jury gewählt wurde, konnte der kleinste österreichische Sender punkten. Während die Redaktion hinter Moderatorin Manuela Raidl auf Information und Sachlichkeit setzte, nannte der ihr zur Seite gestellte Kabarettist Florian Scheuba die Dinge beim Namen und urteilte über den Schwiegersohn der Nation Karl-Heinz Grasser: „Es gibt Leute, die den Hals nicht voll genug kriegen“. Auch thematisch bot PULS4 schon in den ersten zehn Minuten mehr als aus dem ATV-Gackerlsackerl zu holen war: Wehrpflicht, Homosexualität, Integration. Allerdings arbeitete man nicht pannenfrei: So ließ das zu nah am Headset positionierte Mikrofon der Moderatorin durchblicken, dass in erster Linie die Redaktion und nicht sie selbst für Kommentare und Einwürfe verantwortlich war. In einer Zuspielung erhielt die fragende Dame eine „Heinz-Christian Strache“-Bauchbinde, während man selbigen beim kostenpflichtigen Telefonvoting als „Hans-Christian Strache“ aufführte. Die Schaltung dieser vierminütigen Abstimmung durch Anrufe bei Mehrwertnummern holte das Publikum abschließend wieder in die Welt des Privatfernsehens (und seiner Finanzierung) zurück, wie auch die Jury, die einen Vertreter einer „echten“ Qualitätszeitung vermissen ließ. Alles Boulevard? Nein. Und der Live-Stream funktionierte.
Anders bei ATVs „Meine Wahl – Match um Wien“: Die offensive Werbe-Strategie um das Event in der Stadthalle führte nicht nur zum Offline-Quotenerfolg, sondern auch zur Überlastung des Live-Streams. In einem Szenario, dass an Gladiatorenkämpfe im Kolosseum erinnerte, versuchten sich das Moderatoren-Team Sylvia Saringer und Meinrad Knapp und die Spitzenkandidaten Michael Häupl, Christine Marek, Maria Vassilakou und Heinz-Christian Strache gegen die Länderspielatmosphäre durchzusetzen, die die angekarten Partei-Fans verursachten und wirkten dabei ziemlich zahnlos. ATV-Redakteur Martin Thür sieht das naturgemäß anders: Die Sendung bereits in seinem Blogeintrag kommentiert, aber die Freischaltung vermissend, erlaube ich mir, die zeitnähere Kritik hier noch einmal anzuführen:
„Bei soviel Selbstbeweihräucherung kann ich mich nur wundern. Nicht nur, dass (die Sendung) tatsächlich nichts von einer informativen Diskussion, sondern eher Eigenschaften von allen anderen als Kritik angeführten Dingen hatte: Schaukampf, Kasperltheater, Hexenkessel.
Die Lobhudelei bezüglich Recherche lässt sich ohne zu suchen gleich an einem einzigen Beispiel außer Kraft setzen: Der zitierte Hubert Sickinger twitterte während der Sendung “Nett, bei #atv #meinewahl zitiert zu werden, aber das war Fehlinterpretation.” und “Und die Untersuchung war eine Umfrage unter führenden BezirkspolitikerInnen, keine Repräsentativumfrage in der Bevölkerung #atv #meinewahl” und “Ui, meine Untersuchung war aber 1. auf die Bezirkspolitik bezogen und ist 2. fünf Jahre alt 🙂 http://is.gd/fINvd #atv #meinewahl”. Das kostete mich bspw. nicht ein bisschen Recherche.
Natürlich ist zumindest begrüßenswert, dass ATV Politik, soweit es einem Privatsender eben möglich ist, Ernst nimmt. Auch den Mut ein neues Format zu starten, kann man bewundern. Dass dieses Set-Up jedoch zu nichts anderem führen kann als Ländermatch-Atmosphäre, insbesondere, wenn man Fanblöcke ankarrt, ist keineswegs nur ein Resultat. Das ist eine Erwartung.
“Noch nie in Österreich hat jemand ein derartig aufweniges Studio (die drei teuersten Projektoren des Landes, 100 Tonnen Scheinwerfer, 24 Meter Leinwand, bis zu sieben Meter hohe Holzsäulen) in nur 14 Stunden gebaut, danach geprobt, gesendet und wieder abgebaut.”
Was das betrifft: Nett, nur halt nicht zielführend (und werbefinanziert 😉 ). Ich bitte, sich als Positivbeispiel folgende Debatte anzusehen, die weder die teuersten Scheinwerfer noch sonstige Technik bei der Abstimmung (Wahlurne & Zetterl) brauchte und trotzdem soviel mehr Inhalt zuließ:
http://www.youtube.com/watch?v=DmFYpuYh6w0&feature=related
Eine Erweiterung durch Social Media wäre natürlich obligatorisch. Dennoch kann sich ATV, meiner Meinung nach, in Sachen Stil und Konzept da einiges abschaun.“
Dass man in einer Fragerunde zum Thema Bildung sogar vergaß, Straches Antwort einzuholen, war weniger unprofessionell – Fehler passieren – als Meinrad Knapps lapidarer Kommentar dazu: Sonst melde sich der FPÖ-Kandidat doch auch besonders laut zu Wort.
Der ORF löste seine Verpflichtung in Sachen Bildungsauftrag in klassischer Manier: Um 11.05, die Ausstrahlung auf das Bundesland Wien beschränkt, diskutierte man bei Chef-Redakteur Paul Tesarek besonnen über Koalition, Integration und Bildung. Ganz öffentlich-rechtlich kam man ohne das dem Privatfernsehen eigentümliche Drama-Moment, aber auch Innovationen aus, was vor allem eines hervorrief: Gähnende Langeweile. Während die Privaten dem Rotfunk langsam den Rang ablaufen, bleibt dieser auch 2010 dem Stillstand treu und könnte möglicherweise in Sachen Qualitätsmonopol Boden verlieren. Bis zur Nationalratswahl 2012 sollte man die Ideenkiste also dringend auf den Kopf stellen.
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